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Vorwort – 1. Semester

Nicht auf den ersten Blick

Nicht auf den ersten Blick

Welchen Bezug stellen wir zur Realität her? Wie gelingt es, uns ein Bild von ihr zu machen? Wie schaffen wir, angesichts der Undurchsichtigkeit der Welt und des Dogmas von Pragmatismus und Performativität, dabei auch einen Platz für Fiktionen? Fiktionen, die befrieden oder beflügeln, aber auch Ängste schüren können?

Während diese Zeilen geschrieben werden, beanspruchen einige ein Monopol auf die Realität, um simple Botschaften zu verbreiten. Sie lesen und zeichnen die Realität nach ihren Vorstellungen und lassen dabei das Schreckgespenst der Angst und das Trugbild falscher Lösungen entstehen. Ängste und Illusionen, mit denen Menschen zusammengetrommelt werden, um Gemeinschaft zu bilden gegen diejenigen, die anders denken, anders sind oder zu Anderem aufrufen. Dabei formen sie ein einziges Bild von Realität, für das sie Wahrheit beanspruchen.

Für dieses Spielzeitheft haben wir uns entschieden, den Bildern eine Unschärfe zu geben, statt sie scharf zu stellen. Wir denken, dass der Sinn von Kunst darin bestehen kann, die Dinge genau zu beobachten, ohne sie aber zu „klären“ oder trügerische Offensichtlichkeit zu behaupten. Um Wirklichkeit zu erfassen, gilt es, den ersten Blick auf sie in Zweifel zu ziehen. Denn gerade in der Komplexität von Welt liegt eine uns allen gemeinsame Herausforderung, so unterschiedlich unser Lebensalltag auch sein mag. Sicher ist die Aussicht auf unverbrüchlichen Zusammenhalt eine Schimäre, und doch scheint die Sehnsucht ungebrochen, sich unter einem gemeinsamen Dach, metaphysisch, politisch oder konkret, zusammenzufinden. Aber manche Gemeinschaften täuschen eben.

Theater lädt dazu ein, sich mit einer Ansicht oder Vision zu beschäftigen, die nicht unsere ist. Was so zu einer Auseinandersetzung mit uns selbst und mit anderen anregt, erweitert den Blick auf die Realität. So erstarrt das Bild nicht. Und niemand übernimmt die Macht, die Konturen der Welt nach seinem Gutdünken festzulegen.

Die Vielfalt der Künstler:innen im Maillon steht für diese unverzichtbare Diversität des Denkens: Sie kommen von hier oder weiter weg, sie spiegeln verschiedene Lebensrealitäten und bringen mit der ihnen eigenen Originalität andere Stimmen zu Gehör. Wir wollen ihren Blick auf Wirklichkeit genau betrachten, aber ohne uns dabei in einem Rausch von Diskursen zu verheddern. Auch deshalb wechselt das Programm des Maillon nun zu einem halbjährlichen Rhythmus. Es braucht Zeit, einen Blick ruhen zu lassen, ohne gleich etwas vorwegsehen zu wollen. Eine andere Art, sich ein Bild zu machen.

Barbara Engelhardt,
Theaterleiterin

Dez

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